geistliches Drama: Mysterien, Moralitäten und Mirakel

geistliches Drama: Mysterien, Moralitäten und Mirakel
geistliches Drama: Mysterien, Moralitäten und Mirakel
 
Wie die frühen Liebeslieder lehnte die Kirche auch das Theater ab. Tertullians um 210 entstandene Schrift »Über Schauspiele« führte das Argument der Unmoral gegen Drama und Schauspieler ein. Der Christ hatte sie folglich zu meiden. Aber als Papst Innozenz III. 1210 Theateraufführungen im Kircheninnern rigoros untersagte, wirkte sich dieses Verbot nur kurzfristig auf die Gattung aus. In den tausend Jahren nach Tertullian hatte sich nämlich aus dem Schoß der Kirche selbst das Schauspiel wieder neu gebildet. Eingebettet in Formen und Abläufe der Liturgie, waren es Geistliche, die bestimmte Inhalte des Alten und des Neuen Testamentes in Bilder und Gesten übertrugen und damit der weltlichen Spiellaune der Gläubigen entgegen kamen.
 
Entsprechend stellen geistliche Szenarien die ersten erhaltenen Beispiele für eine Wiedergeburt auch des volkssprachlichen Theaters im französischen Mittelalter dar: So die Dramatisierung des Gleichnisses von den klugen und den törichten Jungfrauen (Matthäus 25, 1-13) aus dem 11. und das »Adamsspiel« aus dem 12. Jahrhundert, aus dessen lateinisch abgefassten »Regieanweisungen« hervorgeht, dass es vor dem Portal einer Kirche zum Weihnachtsfest aufgeführt wurde. Damit wird zugleich deutlich, dass sich das geistliche Schauspiel um die großen Feste der Kirche herum entfaltete, neben Weihnachts- und Krippenspielen sind daher Passions- und Osterspiele überliefert. Das »Adamsspiel« und ein etwa zeitgleiches Stück über die Auferstehung gelten als erste Mysterienspiele, Beispiele also für eine Gattung, die einem einfachen Publikum Heilswahrheiten naiv vermitteln soll. Daher sind ihre Inhalte mit Anspielungen auf zeitgenössische Ereignisse und mit burlesken Einlagen, etwa dem Auftreten von Teufeln, gewürzt.
 
Die Tendenz der Vermischung von Heiligem mit Profanem kennzeichnet auch das Mirakelspiel, eine Schauspielform, die Wunderwirkungen und Wundertaten von Heiligen und Märtyrern, besonders aber auch der Jungfrau Maria, zum Inhalt hat. Das erste Heiligenmirakel ist das wahrscheinlich am 5. Dezember 1200 aufgeführte »Nikolausspiel« von Jean Bodel, das als neuen Darstellungsgegenstand die Kreuzzugsthematik auf die Bühne bringt. Das erste Marienmirakel ist das um 1260 entstandene »Mirakelspiel von Theophil« des großen Pariser Spielmanns und Dichters Rutebeuf. Gattungsmäßig schwieriger ist der vor 1228 entstandene Spielmannsmonolog vom »Höfling aus Arras« einzuordnen, der das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15, 11-32) dramatisch umsetzt. Dieses Stück enthält im Übrigen wie das »Nikolausspiel« realistische Szenen aus dem Tavernenmilieu der Stadt Arras, die selbstverständlich erzieherisch wirken sollten, das angesprochene Publikum jedoch ebenso gewiss prächtig unterhielten.
 
Aber nicht nur im religiösen Theater deuteten sich im 13. Jahrhundert Tendenzen an, die sich in den folgenden zwei Jahrhunderten glanzvoll weiterentwickelten, auch im Bereich des weltlichen Schauspiels fanden vorausweisende Entwicklungen statt. So hat man in dem vor 1266 verfassten Text »Vom Burschen und dem Blinden« wohl zu Recht eine erste Farce gesehen, das heißt ein Theaterstück, das dem Publikum mit relativ grober Komik körperliche und geistige Defekte sozial gewöhnlich niedrig stehender Handlungsträger, deren Listen, Lüste und Betrügereien vorstellt, ohne sie moralisch zu bewerten. Das Gelächter der Zuschauer signalisierte dann zugleich auch, dass sie auf keinen Fall zu den auf der Bühne Dargestellten gehören. Ebenfalls komödienhafte Elemente weist das 1276/77 aufgeführte »Laubenspiel« Adams de la Halle auf, das in eigentümlicher Weise realistische Elemente aus dem städtischen Ambiente von Arras, autobiographische Bezüge und Spielformen des Fantastischen aus der idealen Welt des Königs Artus miteinander verbindet und zum Teil parodistisch wieder aufhebt. Von ihm stammt schließlich auch »Das Spiel von Robin und Marion«, das wahrscheinlich um 1285 in Neapel entstand. Adam überführt hier die kleine lyrische Form des Hirtenliedes in die größere des Schäferspiels und steht damit am Beginn einer Tradition, deren große Beispiele die Werke der italienischen Dichter, Tassos »Aminta« und Guarinis »Pastor fido«, sein werden.
 
Diese frühen, noch zaghaften dramatischen Versuche im Bereich des geistlichen und des weltlichen Theaters, die sich im 14. Jahrhundert intensivierten, stellten die Vorbedingung für die ungeheure Entfaltung des volkssprachlichen Schauspiels im Frankreich des 15. Jahrhunderts dar. Dabei waren die Laienbruderschaften von großer Bedeutung, die sich um Vorbereitung und Organisation zunächst des religiösen, später auch des profanen Theaters kümmerten. Zumindest für die oft farbenprächtigen Massenspektakel der großen Mysterienspiele - etwa die Passion (1452; 34 574 Verse) von Arnoul Gréban oder die »Werke der Apostel« Simon und Arnoul Gréban(1460-70, mehr als 60 000 Verse) von -, deren Aufführung sich manchmal über Wochen hinzog, waren natürlich große Vorbereitungen erforderlich: Handwerker mussten bestellt und, bei bis zu 5000 Zuschauern pro Inszenierung, gewaltige Mengen von Lebensmitteln geordert werden, die dann in den Pausen von Schauspielern und Publikum verzehrt wurden.Solche Veranstaltungen gewannen im Laufe der Jahre immer mehr den Charakter eines Jahrmarkts und führten 1548 zu dem Beschluss des Pariser Parlamentes, der städtischen Passionsbruderschaft die Aufführung von Mysterienspielen nicht länger zu gestatten.
 
Spielte die allegorische Darstellung von Tugenden und Lastern bereits im religiösen Theater eine wichtige Rolle, so wurde sie in den seit 1427 belegten Moralitäten zum Kompositionsprinzip der Einzeltexte und zur inhaltlichen Basis ihrer Absicht. In diesen satirischen, politisch oder religiös motivierten Theaterstücken mit realistisch dargestellten menschlichen Gestalten und allegorischen Figuren, die sich meist im Widerstreit um die Seele der Zentralfigur befinden, arbeitete man mit den gleichen dramaturgischen, vielfach auf Kontrasten beruhenden Mitteln wie in den Mysterienspielen. Typisierung und Schwarz-Weiß-Zeichnung, Kalauer und Obszönitäten vermittelten auch den Ungebildeten die grundsätzlich lehrhafte Aussage und gab ihnen zugleich ein Ventil für psychische Ängste und gesellschaftliche Frustrationen.
 
Neben den Moralitäten finden sich andere eher weltlich orientierte dramatische Gattungen im französischen 15. Jahrhundert - etwa die Narrenspiele, die während der Karnevalszeit aufgeführt wurden und daher die politischen und sozialen Verhältnisse unverhüllt nach dem Schema der »Verkehrten Welt« kritisieren konnten, die Spaßpredigten, die in Predigtform grob, erotisch und obszön die unterschiedlichsten Leibesgenüsse priesen, und schließlich die Farce, die sich gleich zu Beginn mit dem Meisterwerk über den Advokaten Pierre Pathelin (um 1465) präsentiert und deren komödiantische Energien und Einfälle noch Molière inspirierten.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange
 
 
Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, bearbeitet von Wolfgang Beutin u. a. Stuttgart u. a. 51994.
 
Französische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.
 Hausmann, Frank-Rutger: Französisches Mittelalter. Stuttgart u. a. 1996.
 Wehrli, Max: Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 21984.

Universal-Lexikon. 2012.

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